Die Montessori-Mafia

Der gebürtige Russe Сергей Михайлович Брин, besser bekannt als Sergey Brin, und der US-Amerikaner Larry Page, sind bekanntlich die beiden Gründer von Google. Bis heute halten sie gemeinsam die Kontrolle über die Megamacht Google, und beide gehören längst zu den zwanzig reichsten Menschen der Welt. Dennoch sind beide bis heute recht flapsige Typen geblieben, die sich am liebsten mit technischen Herausforderungen befassen. Und die ihr mittlerweile gerne verhöhntes Firmenmotto „Dont’t be evil“ („sei niemals böse“) in ihrer Selbstwahrnehmung bis heute ernst nehmen.

Jeff Bezos ist auch so ein smarter, tougher Typ. Nicht bekannt? Das ist der Gründer und Präsident des Mega-Konzerns Amazon. Er gehört ebenfalls zu den zwanzig reichsten Menschen der Welt. Die Idee, Versandpakete von Drohnen ausliefern zu lassen, ist seine. Auch sonst denkt er gnadenlos „big“, was in seiner Sicht und in der von Millionen Kunden den entscheidenden Mehrwert von Amazon ausmacht. Er wurde allerdings auch schon zum „schlechtesten Chef der Welt“ gewählt, weil die Kehrseite seiner Visionen mies behandelte Logistik-Heerscharen im Namen der Profitmaximierung sind.

Damit hat Jimmy Wales nichts zu tun, doch berühmt und berüchtigt ist er nicht weniger – als der Gründer von Wikipedia, unser aller Wissensquelle im Zweifelsfall. Wales gehört zwar nicht zu den reichsten Menschen der Welt, aber sein „Kind“ ist nichts Geringeres als die zeitgemäße Redefinition von „schwarz auf weiß“, das allgemein anerkannte Weltwissen.

Und dann ist da natürlich noch Marc Zuckerberg, der Gründer von Facebook, über den man wohl niemandem noch irgendetwas erzählen musss.

Keine Gründungs-Mythen an dieser Stelle. Nur die Feststellung, dass diese fünf Jungs das Internet und das alltägliche Leben in den letzten Jahren rasant und nachhaltig verändert haben. Google, Facebook, Amazon und Wikipedia verursachen zusammengenommen nicht unwesentliche Teile des gesamten Traffics im Internet. Fünf smarte Jungs als Weltenherrscher? Gibt es ein Erfolgsgeheimnis? Wohl kaum. Aber es gibt eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit: alle fünf – Sergey Brin, Larry Page, Jeff Bezos, Jimmy Wales und Marc Zuckerberg – sollen durch Montessori-Pädagogik geprägt worden sein.

Zumindest kursieren entsprechende Aussagen im Internet. Im engeren Sinne belegt ist die Prägung jedoch nur bei den beiden Google-Gründern.

Wie viel Montessori steckt tatsächlich dahinter?

Bei Jimmy Wales ist es keine echte Montessori-Schule. Im englischen Wikipedia-Artikel zu Jimmy Wales wird beschrieben, dass Jimmys Großmutter Erma und seine Mutter Doris eine kleine Privatschule mit dem Namen The House of Learning betrieben, die in der Tradition der Dorfschulen als One-Room-Schoolhouse geführt wurde. In einem Interview von 2005 beschrieb Wales diese Schule so: „Wirklich nett daran war und eine Verbindung zu meinem gegenwärtigen Schaffen ist, dass wir eine ordentliche Menge Freiheit hatten uns zu damit zu beschäftigen was uns insteressierte. Es war eine Montessori-beeinflusste Lernphilosophie. So verbrachte ich viele, viele Stunden einfach damit, über der World Book Encyclopedia zu brüten“. Als Erwachsener, so der Wikipedia-Artikel, wurde Wales zu einem scharfen Kritiker staatlicher Schulen, der sich gegen die staatliche Einmischung und Kontrolle in Schulangelegenheiten aussprach.

Was Bezos und Zuckerberg betrifft, so lässt sich zumindest nach meinen Recherchen gar kein direkter Zusammenhang feststellen. Bezos besuchte von der vierten bis zur sechsten Lernstufe die öffentliche River Oaks Elementary School in Houston und später die ebenfalls öffentliche Miami Palmetto Senior Highschool. Nur über die ersten vier Schuljahre fand ich nichts. Was Zuckerberg betrifft, so klingt zwar das Mission Statement der Ardsley Schools, von denen der Facebook-Gründer die Highschool knapp zwei Jahre lang besucht hat, ein wenig Montessori-like, doch es sind keine von der American Montessori Society gelisteten Schulen. Das gilt erst Recht nicht für die Phillips Exeter Academy, die Zuckerberg anschließend besuchte. Allerdings ist auch über Zuckerbergs Grundschulzeit nichts Verlässliches in den öffentlichen Quellen im Netz zu finden.

Beide – Bezos und Zuckerberg – setzen sich jedoch für das Schulwesen ein, und beide sind bereits durch Spenden an Schulen oder Schulorganisationen aufgefallen. Über Jeff Bezos schreibt Diane Ravitch in ihrem Blog-Artikel Jeff Bezos: Worse Than We Thought: „Bezos ist vollkommen befallen von der Idee, dass der einzige Weg zur Verbesserung des Schulwesens darin besteht, öffentliche Schulen zu privatisieren und Lehrerverbände aufzulösen“. Der Artikel listet auch die Spenden auf, mit denen Bezos seiner Überzeugung bereits Nachdruck verliehen hat. Allerdings ist selbst daran keinerlei spezielle Affinität gegenüber dem Montessori-Ansatz erkennbar.

Die in dem Artikel genannten Spendensummen sind jedoch nur Peanuts, verglichen mit den 100 Millionen Dollar, die Marc Zuckerberg 2010 an die Newark Public Schools überwies. Dabei handelt es sich um das öffentliche Schulsystem der Stadt Newark im US-Bundesstaat New Jersey. Auch hier kein Montessori-Bezug, ebensowenig wie bei der neueren, noch üppigeren 120-Millionen-Dollar-Spende an die Bay Area Schools in Kalifornien.

Google und Montessori

Den Begriff The Montessori Mafia hat 2011 der Blogger Peter Sims mit dem verlinkten Wall-Street-Journal-Artikel geprägt. Dort zitiert er aus einem Interview der Journalistin und Moderatorin Barbara Walters mit den beiden Google-Gründen aus dem Jahr 2004. Auf die Frage, ob die Tatsache, dass beide Google-Gründer aus Akademiker-Familien stammen, etwas mit ihrem Erfolg zu tun habe, antwortete Larry Page: „wir sind beide auf Montessorischulen gegangen, und ich glaube es hat mit diesem Training zu tun, nicht einfach Regeln und Befehlen zu folgen, aus eigener Motivation heraus die Welt zu erkunden, alles etwas anders anzugehen“.

Das ist zweifellos ein klares Statement, wenn auch etwas allgemein gehalten und mit einem gleichzeitigen geschickten Ablenken vom versuchten Vorwurf des „Akademiker-Privilegs“ verwoben. Ein weiteres, noch deutlicheres Statement von Sergey Brin findet sich auf den Webseiten der Montessorischule Bamberg: „Ich glaube, dass ich von der Montessori-Erziehung profitiert habe, die Schülern in mehrfacher Hinsicht viel mehr Freiheiten gibt, Dinge entsprechend dem persönlichen Entdeckervermögen zu tun … Ich glaube, dass einiges von dem Vertrauen in die Bereitschaft, den eigenen Interessen zu folgen, auf die Montessori-Erziehung zurückführbar ist“. Das Zitat stammt aus dem nachfolgenden Video:

Google founder Sergey Brin discusses his experience as a Montessori student

Auch das Worldcrunch-Magazin nimmt sich der Montessori-Mafia an, schießt sich aber letztlich ebenfalls nur auf die beiden Google-Gründer ein. Der entsprechende Artikel, betitelt mit Montessori In Mountain View – How Italy’s Famed Educator Shaped Silicon Valley, hält neben einigen interessanten Fakten (20.000 Montessorischulen gibt es weltweit, 5.000 davon allein in den USA) auch eine nette Anekdote bereit: Marissa Mayer – Google-Urgestein und mitttlerweile Chefin von Yahoo, kann sich immer noch nicht zwischen Horror und Bewunderung entscheiden, wenn sie an die Wettkämpfe zwischen Larry und Sergey denkt, bei denen es darum geht, wie man in hochherrschaftlichen Situationen die „Etiquette“ am stilvollsten verletzt. Während eines Dinners im St.-James-Palast zu London schockierten die beiden Prinz Phillip, indem sie die Früchte-Purrées austranken, die eigentlich als Topping eines Soufflés gedacht waren. Als Marissa Mayer den beiden versuchte zu erklären wie man das Mus eigentlich korrekt zu sich nehmen sollte, antworteten die beiden wie schon in diversen anderen, vergleichbaren Situationen, mit einem sprichwörtlichen „Sagt wer?“. Und Mayer fügt hinzu: „Wir sind Montessori-Kinder. Wir sind darauf programmiert, Autorität in Frage zu stellen“.

Schlüsse

Es hängt alles irgendwie zusammen – von der am Individuum orientierten Pädagogik Montessoris bis zum Libertarismus ist nur ein Denkschritt. Und von dort aus geht es zügig weiter zum Neoliberalismus, zum Turbokapitalismus und zur Amazon-Welt von Jeff Bezos. Allerdings darf es als sicher gelten, dass Neoliberalismus und Turbokapitalismus nicht die pädagogischen Ziele von Maria Montessori waren. Im gegenwärtigen Mem-Kosmos werden lediglich die Begriffe Individualismus und Entrepreneurship (Unternehmertum) als zu stark zusammenhänglich betrachtet. Dabei kann Individualismus zu allem möglichen führen – vom nomadischen Öko-Aktivisten über den Hochleistungssportler bis zum Internet-Startup-Gründer. Nur eines haben diese Individualisten gemeinsam. Sie passen sich mehrheitlich nicht ans herrschende System an. Sie lassen sich nicht auf Dauer in die Mühlen von Ausbildung, Angestelltsein mit Chef und Lohnsteuer pressen. Die Mehrheit von ihnen geht letztlich andere Wege – ganz unterschiedliche. Aber andere. Den Propagandisten der herrschenden gesellschaftlichen Wertekultur, die auf höchstmögliche Leistungserbringung bei gleichzeitiger Angepasstheit und Gehorsam abzielt, ist solcher Individualismus als Massenerziehungsziel ein Dorn im Auge. Die Montessori-Bewegung wird das vermutlich noch zu spüren bekommen, wenn sie weiter an Verbreitung und Einfluss gewinnt.

Wobei die Montessori-Theorie wieder etwas ganz Anderes ist als die Montessori-Praxis. Nicht jedes Kind, das eine Montessori-Bildung genossen hat, wird zum gesellschaftlichen Extremisten. Und nicht alles, was im Schulalltag einer Montessori-Schule passiert, ist Erziehung zum totalen Individualismus. Montessori-Pädagogik ist absolut nicht gesellschaftsfeindlich oder sozial indifferent. Sie basiert nicht wie der Liberalismus auf einem Weltbild, in dem jeder des anderen Feind ist. Ganz im Gegenteil setzt Montessori-Pädagogik viel auf Begriffe wie Kooperation und Allmende. Aber im Gegensatz zum sozialistisch-kommunistischen Weltbild wird die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten als höchstes „Kapital“ angesehen.

Google ist jedenfalls ein gutes Beispiel dafür, was aus einer Montessori-Prägung entstehen kann. Zumindest dann, wenn man mal bereit ist, sich näher mit Google zu befassen, statt auf das mantra-artige Dauer-Bashing deutscher Mittelständler, Interessensverbände und zugehöriger Politiker gegen Google zu hören.